Berliner Erklärung
Experten-Bündnis fordert Vorfahrt für Prävention
Wie kann die Gesundheit einer ganzen Bevölkerung grundlegend verbessert werden? Dieser Frage sind über ein Jahr lang Fachleute nachgegangen. Das Ergebnis sind zehn Leitprinzipien für die Vorsorge der Zukunft. Auch Erkenntnisse aus der Corona-Pandemie sind eingeflossen.
Veröffentlicht: | aktualisiert:Berlin. Weniger Reparaturmedizin, dafür mehr Prävention und Vorsorge: Rund 40 Gesundheitsexperten – darunter Haus- und Fachärzte sowie Vertreter von Krankenkassen und Patientenorganisationen – haben zu einem Paradigmenwechsel im Kampf gegen Krankheit und Pflegebedürftigkeit aufgerufen.
In einer vom Wissenschaftsverlag Springer Medizin und dem forschenden Pharmaunternehmen Pfizer getragenen Initiative haben die Fachleute zehn Handlungsfelder für eine „Gesundheitsvorsorge der Zukunft“ definiert und diese in einer Berliner Erklärung verdichtet. Die Empfehlungen wurden am Donnerstagnachmittag beim Hauptstadtkongress Digital in Berlin vorgestellt.
Über Sozialgesetzbücher hinaus
„Konsequent gedachte Vorsorge muss weit über die Grenzen des Gesundheitssystems hinausreichen und viele gesellschaftliche Bereiche wie Bildung, Arbeit, Verkehr oder Umwelt miteinschließen“, sagte der wissenschaftliche Leiter der Initiative, der Gesundheitsökonom Professor Reinhard Busse.
Das seit 2015 geltende Präventionsgesetz sei zwar grundsätzlich vom politischen Willen getragen, die Gesundheitsvorsorge zu stärken. Das Gesetz reiche aber bei Weitem nicht aus, um aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden. Gerade auch die Coronavirus-Pandemie führe vor Augen, dass ohne Gesundheit viele andere gesellschaftliche Werte gefährdet seien.
Deutschland brauche deshalb eine „Health in All Policies“, sagte Busse. Als eine der zehn zentralen Maßnahmen schlägt die Initiative vor, ein „Gesundheitskabinett“ – vergleichbar dem derzeitigen Corona-Kabinett – innerhalb der Bundesregierung einzurichten und dauerhaft als Handlungsgremium zu „verstetigen“.
Künftige Gesundheitsvorsorge sei zudem über die Sozialgesetzbücher hinaus zu gestalten. Gesundheit müsse in jedem Politikbereich – nicht nur im Gesundheitsressort – verankert werden, zeigen sich die Initiatoren der Berliner Erklärung überzeugt.
BZgA-Chefin Thaiss: Zeit ist reif
Die Leiterin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Professor Heidrun Thaiss, sagte bei der anschließenden Diskussionsveranstaltung, die Zeit für mehr Prävention und damit auch für die Berliner Erklärung sei überfällig. Dabei könne man auch die Erfahrungen aus der COVID-19-Pandemie nutzen. „Noch nie waren die Menschen so sensibilisiert für das Thema.“
Gesundheit meine nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, sondern umfasse auch den Aspekt Lebensqualität, betonte die BZgA-Chefin. Lebenswelten seien stärker in den Fokus zu nehmen, „weil dort Prävention und Vorsorge gelebt werden“.
Angebote seien zielgerichtet aufzulegen und dürften nicht einfach „breit gestreut“ sein und dann womöglich an den Bedarfen der Menschen gehen. Kosten-Nutzen-Bewertung brauche es nicht nur in der Kuration, sondern auch in der Prävention. Prävention brauche zudem den „Mut zum langen Atem“. Kurzfristige Erfolge seien nicht zu erwarten, sagte Thaiss.
Verhältnisprävention „das A und O“
Dr. Kirsten Kappert-Gonther von Bündnis 90/Die Grünen, betonte, sie könne alle zehn Leitprinzipien der Berliner Erklärung voll und ganz unterschreiben. „Health in All Policies“ sei überfällig und die „politische Aufgabe“ schlechthin. „Wir wissen es ja, dass die Verhältnisse, unter den Menschen arbeiten, leben oder sich bilden, erheblichen Einfluss auf ihre Gesundheit haben“, betonte die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie.
Neben der Verhaltensprävention brauche es ein deutliches Mehr an Verhältnisprävention, so Kappert-Gonther. „Das ist das A und O.“ Gesunde Produkte und gesundheitsfördernde Aktivitäten seien stärker anzureizen. Das Credo müsse lauten: „Mach das, was gesund hält, einfach und günstig.“
Der Staat sei in der Verantwortung, durch steuerliche Anreize etwas gegen Übergewicht zu tun oder durch mehr Radwege zu Bewegung zu motivieren, nannte die Grünen-Politikerin Beispiele. „Wir wissen, was wir tun müssen.“
Kommunen stärker einbeziehen
Der CDU-Gesundheitspolitiker und Präsident der Landesärztekammer Nordrhein, Rudolf Henke sagte, Gesundheitsvorsorge finde vor allem auf kommunaler Ebene statt. Da werde es ganz konkret. „Die Kommunen müssen stärker in die Meinungsbildung mit den Sozialversicherungen hinein.“
Ob das Präventionsgesetz dafür der „geeignete Ort“ sei, müsse man diskutieren. Nötig sei zudem ein „ärztliches Präventionsmanagement“ in den Praxen. Das sei der geeignete „Raum“, die Menschen für gesunde Ernährung oder Bewegung zu sensibilisieren.
Präventives und kuratives Handeln dürften aber nicht gegeneinander ausgespielt werden, warnte Henke. „Wer Behandlung braucht, soll sie auch haben.“
Komplexes Lagebild
Dr. Harald Katzmair, Gründer und Geschäftsführer von Wiener FASresearch, nannte die Prävention „ein unheimlich komplexes Thema“. Die Herausforderung liege darin, die sehr unterschiedlichen Stakeholder zusammenzubringen und „ein gemeinsames Lagebild“ zu erarbeiten. Das sei in der Berliner Erklärung gelungen.
Eine während der Diskussion der Berliner Erklärung durchgeführte Blitz-Umfrage unter den Zuschauern, wie weit die genannten Thesen ihrer Meinung umgesetzt sind, ergab derweil: Vor allem bei der Nutzung von Daten, der Umsetzung der Health in All Policies und der Ansprache vulnerabler Bevölkerungsgruppen gibt es noch erheblichen Nachholbedarf gibt.
Als weitere Bausteine einer gelingenden Präventionsstrategie schlagen die Experten vor:
Prävention ins Zentrum der Primärversorgung rücken: Ärzte sollen mehr Zeit bekommen, um mit ihren Patienten über Vorsorge sprechen und entsprechende Angebote proaktiv anbieten zu können. Finanzierungssysteme, die auf Prävention statt auf die Behandlung von Krankheit abzielen, sowie Bonusmodelle – zum Beispiel im Rahmen eines Primärarztmodells – sind auszubauen.
Ein Präventions-Think-Tank soll das Silodenken im Gesundheitsbereich auflösen und sektorenübergreifend an einer ganzheitlichen Präventionsstrategie arbeiten.
Eine nationale Kommunikationsstrategie soll Gesundheitskompetenz („Health Literacy“) und gesundheitsbewusstes Verhalten in der Bevölkerung stärken.
Präventionsangebote stärker auf vulnerable Gruppen zuschneiden. Die Arbeit von Präventionsberatern soll gestärkt, nicht-ärztliche Berufe mehr einbezogen werden.
Gesundheit in Umwelt-, Verkehrs- und Infrastrukturpolitik mitdenken. Heißt in der Praxis etwa mehr Radwege, Grünflächen und Möglichkeiten, um sich bewegen zu können.
Bestehende Präventionsangebote – etwa zum Influenza-Schutz – sollten proaktiver angeboten werden, um Unterversorgung zu vermeiden.
Mehr interprofessionelle Gesundheitsvorsorge: Angehörige nichtärztlicher Berufe wie etwa Pflegefachkräfte oder Apotheker sollen verstärkt Präventionsaufgaben übernehmen.
Versorgungsdaten sind zielgerichteter für Präventions- und Versorgungsangebote zu nutzen. Studien zeigten, dass elektronische Gesundheitsakten die Leitlinienadhärenz um ein Drittel verbessern, die Rate von Medikationsfehlern halbieren und unerwünschte Arzneimittelereignisse um ein Drittel senken könnten.
Gesundheitsfördernde Produkte und Aktivitäten sollen vom Staat steuerlich begünstigt, schädliche hingegen verteuert werden. Die Krankenkassen sollen mehr Flexibilität erhalten, um Bonusprogrammen für ihre Versicherten aufzulegen.
Abschied vom Silodenken nötig
„Wir wünschen uns, dass Gesundheitsförderung künftig größer gedacht wird“, sagte Wolfgang van den Bergh, Chefredakteur der „Ärzte Zeitung“ aus dem Hause Springer Medizin. Die Berliner Erklärung könne einen wichtigen Beitrag leisten, um das Präventionsgesetz als lernendes System zu begreifen und es dort zu ergänzen, wo es notwendig und wichtig wäre. „Von jeglichem Silodenken sollten wir uns verabschieden“, sagte van den Bergh.
„Prävention muss eine höhere Priorität erhalten, einfacher werden und die Menschen erreichen“, sagte Martin Fensch, Mitglied der Geschäftsführung von Pfizer Deutschland. Die Berliner Erklärung zeige auf, welche Hebel umzulegen seien, Gesundheitsvorsorge zukunftsfester zu machen.
Berliner Erklärung
Rund 40 Experten haben in drei Zukunftswerkstätten von Sommer 2019 bis Sommer 2020 Kriterien für eine Gesundheitsvorsorge der Zukunft erarbeitet.
Zehn Leitprinzipien, die von den Experten am relevantesten bewertet wurden, bilden die Basis für die Berliner Erklärung.
Die Berliner Erklärung ist im Internet abrufbar unter: www.vorsorgederzukunft.de