„ÄrzteTag“-Podcast
BÄK-Präsident Reinhardt: „Die Kollegen wollen Orientierung“
Zwei Tage volle Konzentration auf die Themen, die die Ärzteschaft aktuell bewegen: Dieses Jahr tagte der Ärztetag pandemiegerecht im Digital-Format. BÄK-Chef Dr. Klaus Reinhardt zieht ein positives Fazit und hofft auf ein Präsenz-Wiedersehen im Herbst.
Veröffentlicht:Ärzte Zeitung: Herr Dr. Reinhardt, der 124. Deutsche Ärztetag konnte in diesem Jahr nur digital stattfinden. Über die Nachteile wird oft geklagt. Verraten Sie uns, warum auch ein Digitalformat Vorzüge haben kann?
Dr. Klaus Reinhardt: Ich würde nicht so weit gehen, dass es Vorzüge gibt. Das wäre vielleicht wirklich ein bisschen übertrieben. Aber wir haben trotzdem sehr gute Diskussionen erlebt. Das gilt vor allem für die Themen, die schwierig und komplex waren. Und dazu zählen nun einmal auch die Fragen rund um die Lehren aus der Pandemie, so weit sie jetzt schon zu ziehen sind. Daneben hatten wir eine sehr offene und intensive Debatte über das Verbot der ärztlichen Suizidbeihilfe. Auch hier sind wir zu guten Ergebnissen gekommen.
Normalerweise dauern die Beratungen über vier Tage. Warum sind in diesem Jahr nur zwei Tage angesetzt worden?
Wir wussten vorher, dass eine digitale Veranstaltung von allen ein sehr hohes Maß an Konzentration abverlangt. Es musste auch sichergestellt werden, dass die Technik über einen so langen Zeitraum funktioniert. Zudem haben wir uns vorgenommen, wenn es die Situation zulässt, im Herbst einen ordentlichen Ärztetag in Präsenz stattfinden zu lassen.
Die Themenpalette war groß und reichte von den Konsequenzen, die aus der Corona-Pandemie zu ziehen sind, über die GOÄ Novelle, Klinik- und Notfallreform, die Approbationsordnung und die Aufnahme des Facharztes für Innere Medizin und Infektiologie, bis hin zum assistierten Suizid und vielem mehr. Nun hat der Ärztetag das Verbot der Suizidbeihilfe in Paragraf 16 der Muster-Berufsordnung gestrichen. Interessant dabei ist, dass der Vorstand in seinem Antrag ursprünglich geschrieben hatte: „Es ist damit den Ärztinnen und Ärzten überlassen, aufgrund individueller Gewissensentscheidungen insbesondere schwer kranke Patientinnen und Patienten bei einem Suizid zu unterstützen.“ Er wurde gestrichen. Macht die Ärzteschaft da nicht bereits die Tür zur gesellschaftlichen Debatte zu, die sie selbst einfordert?
Nein, das glaube ich nicht. Das ist eine Missinterpretation. Sehen Sie, wir sind ja erst am Beginn einer Debatte und für viele Kollegen ist es wichtig, bei dieser Frage nicht allein gelassen zu werden. Wir belassen es deshalb auch nicht bei der bloßen Änderung der Berufsordnung, sondern erarbeiten für Ärztinnen und Ärzten eine Handreichung als Orientierung und Unterstützung für solche schwerwiegenden Entscheidungen.
Was bedeutet das Votum für die politische Debatte?
Mit dieser Entscheidung haben wir zunächst die Voraussetzung geschaffen, dass ein Arzt mit seinem Patienten frei entscheiden kann. Wir nehmen damit den Druck aus der Situation. Das heißt nicht – und das habe ich in meiner Zusammenfassung deutlich gemacht – den Suizid in Deutschland befördern zu wollen. Wir werden die politische Debatte genau verfolgen.
Wir werden uns auch mit unserer ärztlichen Expertise einbringen, wenn es um die Suizidprävention geht. Warum haben Menschen einen Suizidwunsch und was kann man dagegen tun? Wir müssen uns auch fragen: Sind die Lebensbedingungen und Lebensverhältnisse unserer hochbetagten Menschen human und angemessen? Tun wir genug für diese Menschen, bieten wir ihnen Perspektiven? Und das muss vor allem gesellschaftspolitisch diskutiert werden.
Dr. Klaus Reinhardt
Aktuelle Position: Seit 30. Mai 2019 Präsident der Bundesärztekammer; seit 1993 niedergelassen in Bielefeld als Hausarzt
Werdegang: 1979 Abitur; 1979 – 1980 Bundeswehr; 1980 – 1981 Philosophie- und Jurastudium in Bonn; 1982 – 1989 Medizinstudium in Padua (Italien); 1990 Staatsexamen; 1990 Approbation; 1997 Anerkennung als Facharzt für Allgemeinmedizin
Karriere: Seit 2001 Mitglied der Ärztekammerversammlung in Westfalen-Lippe (ÄKWL); seit 2005 Vizepräsident der ÄKWL; 2009 – 2011 stellvertretender Bundesvorsitzender des Hartmannbundes; seit 2011 Bundesvorsitzender des Hartmannbundes; seit 2015 Vorstand der Bundesärztekammer (BÄK); seit 2016 Vorsitzender des BÄKAusschuss’ „Gebührenordnung“
Lassen Sie uns über die neue internistische Facharztweiterbildung für Infektiologie reden. Warum reicht die Zusatzbezeichnung, die es ja immerhin schon seit 2003 gibt, nicht aus? Ist hier auch Druck durch die Pandemie entstanden?
Die Pandemie hat die Handlungsnotwendigkeiten noch einmal verdeutlicht, gar keine Frage. Aber Corona war nicht der Grund dafür, dass wir den Facharzt für Innere Medizin und Infektiologie einführen. Wir stellen fest, dass es weltweit eine Zunahme von Infektionserkrankungen mit komplexen Fragestellungen gibt. Dem müssen wir Rechnung tragen. Wir brauchen den Facharzt für Innere Medizin und Infektiologie für die komplexen Fragestellungen und die Kollegen mit der Zusatzbezeichnung für die breite flächendeckende Versorgung. Ganz wichtig: Der Erwerb der Zusatzbezeichnungen für Facharztgruppen wird weiterhin möglich sein.
Ein wichtiges Thema konnte nicht behandelt werden und erlebt derzeit Konjunktur, nachdem das Bundesverfassungsgericht die Politik aufgefordert hat, die Klimaziele über das Jahr 2030 hinaus klar zu formulieren. Wie sehr ärgert es Sie, dass Sie das Thema „Klima und Gesundheit“ von der Agenda nehmen mussten?
Das ist sehr bedauerlich, und wir haben uns mit dieser Entscheidung wirklich schwergetan. Andererseits hält sich mein Ärger in Grenzen, weil wir das Thema dann im Herbst auf einem dann vielleicht möglichen Präsenz-Ärztetag aufrufen wollen. Und ich kann Ihnen sagen, dass wir das gesamte Spektrum der gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels sehr ausführlich und aus verschiedenen Perspektiven diskutieren werden.
Wo wir gerade bei der Politik sind. Im September sind Bundestagswahlen, der Ärztetag hat hier und da durchblicken lassen, wie eine Reform der Gesundheitsversorgung nach der Corona-Pandemie aussehen könnte. Was sind die aus Ihrer Sicht wichtigsten Forderungen, die auch darüber hinaus gehen?
Neben der Forderung nach einer vernünftigen Organisation des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) und einer besseren Planung von Krisenstäben gehört natürlich eine vernünftige und leistungsstarke ambulante und stationäre Versorgung dazu. Wir haben auf dem Ärztetag konkrete Reformvorschläge erarbeitet. Diese Eckpunkte sollten sich im Koalitionsvertrag der nächsten Bundesregierung wiederfinden. Dafür werden wir uns in den nächsten Monaten einsetzen.
Unverändert bleibt unsere Forderung, dass der Beruf des Arztes ein freier Beruf bleiben muss, frei von der Einflussnahme auf unser ärztliches Tun. Und vor diesem Hintergrund müssen wir weiter Kommerzialisierungstendenzen in unserem Gesundheitswesen entgegentreten.
Wird die Ärzteschaft dazu noch „Wahlprüfsteine“ formulieren?
Unsere Aufgabe ist es, vor der Wahl klar zu formulieren, welche Weichenstellungen für ein krisen- und zukunftsfestes Gesundheitswesen aus ärztlicher Sicht notwendig sind. Auf der Grundlage der Beschlüsse des Deutschen Ärztetages werden wir uns akzentuiert positionieren, da können Sie sich sicher sein.