EvidenzUpdate-Podcast
Von Evidenz für Adipositas-Prävention, Kiosken, DMP – und zu viel Markt in der Medizin
Was bringt echte Prävention eigentlich? Ein „EvidenzUpdate“ darüber am Beispiel der Adipositas. Und über allerhand Merkwürdigkeiten.
Veröffentlicht:Mit dem Missverständnis, dass Früherkennung Prävention oder gar „Vorsorge“ sei, haben wir in der letzten Episode vom „EvidenzUpdate“-Podcast neuerlich aufgeräumt. Es blieb die Frage: Für welche Verhältnis- und Verhaltensprävention gibt es überhaupt gute Evidenz? Wir haben mal nachgeschlagen. Spoiler: Ja, es gibt positive Signale und vernünftige Evidenz, nur eben nicht in der Menge und Stärke, wie man es sich wünschen würde.
Also sprechen wir in dieser Episode des „EvidenzUpdate“-Podcasts über drei Übersichtsarbeiten und systematische Reviews, die sich damit beschäftigen, einer Adipositas vorzubeugen oder Gewicht zu reduzieren bei Kindern und Jugendlichen. Wir sprechen über Energiebilanzen, Intakes und Outtakes, Wasserspender und Pommesbuden. Und wir sprechen über die methodischen Herausforderungen, Ergebnisse von Präventionsmaßnahmen zu messen und zu bewerten.
Aber eigentlich drehen wir das größere Rad, jedenfalls ein bisschen: Wir überlegen, ob Gesundheitskioske nicht sogar einen Nutzen für die lebensweltliche Verhältnis- und Verhaltensprävention haben könnten. Wir fragen uns, was die geplanten DMP Adipositas eigentlich bringen sollen. Und wir sprechen über das ärztliche Selbstverständnis und über massive Geldverschwendung im leistungsgetriebenen Medizinsystem. (Dauer: 47:05 Minuten)
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Schreiben Sie uns: evidenzupdate@springer.com
Quellen
- Scherer M, Nößler D. Lipid-Screenings für alle? Vom großen Missverständnis Früherkennung. AerzteZeitung.de. 2023. https://www.aerztezeitung.de/Podcasts/Lipid-Screenings-fuer-alle-Vom-grossen-Missverstaendnis-Frueherkennung-444739.html (accessed 14 Dec 2023).
- De Bourdeaudhuij I, Van Cauwenberghe E, Spittaels H, et al. School-based interventions promoting both physical activity and healthy eating in Europe: a systematic review within the HOPE project. Obesity Reviews 2011;12:205–16. doi:https://doi.org/10.1111/j.1467-789x.2009.00711.x
- Brandt S, Moß A, Berg S, et al. Schulbasierte Prävention der Adipositas. Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 2010;53:207–20. doi:https://doi.org/10.1007/s00103-009-1017-z
- Yuksel HS, Sahin FN, Maksimovic N, et al. School-Based intervention programs for preventing obesity and promoting physical activity and fitness: A systematic review. International Journal of Environmental Research and Public Health 2020;17:347. doi:https://doi.org/10.3390/ijerph17010347
- Fachgesellschaften fordern stärkere Vernetzung durch geplante Gesundheitskioske. AerzteZeitung.de. 2023. https://www.aerztezeitung.de/Politik/Fachgesellschaften-fordern-staerkere-Vernetzung-durch-geplante-Gesundheitskioske-445446.html (accessed 14 Dec 2023).
- G-BA bringt Chronikerprogramm Adipositas auf den Weg. AerzteZeitung.de. 2023. https://www.aerztezeitung.de/Politik/G-BA-bringt-Chronikerprogramm-Adipositas-auf-den-Weg-444682.html (accessed 14 Dec 2023).
- Positionspapier zu Prävention und Therapie von Adipositas. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin 2023. https://www.degam.de/files/inhalt/pdf/positionspapiere_stellungnahmen/positionspapier_neues_verzeichnis/2023_pp_adipositas.pdf (accessed 14 Dec 2023).
- Porter ME, Elizabeth Olmsted Teisberg. Redefining health care : creating value-based competition on results. Boston, Mass.: Harvard Business School Press 2006.
Transkript
Nößler: Mit Krankheit lässt sich bekanntlich jede Menge Geld verdienen. Und mit Gesundheit ebenso, vulgo Prävention. Was also wäre die richtige Prävention? Vor allem wo und für wen? Was sagt die Evidenz dazu? Und ist ein Adipositas-DMP eigentlich nur grober Unfug? Damit herzlich willkommen zu einer neuen Episode vom EvidenzUpdate-Podcast. Wir, das sind ...
Scherer: Martin Scherer.
Nößler: Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der DEGAM und Direktor des Instituts und Poliklinik für Allgemeinmedizin am UKE in Hamburg. Und hier am Mikrofon ist Denis Nößler, Chefredakteur der Ärzte Zeitung aus dem Haus Springer Medizin. Moin, Herr Scherer!
Scherer: Moin, Herr Nößler.
Nößler: Wir haben neulich in der letzten Episode über den Unfug massenhafter Früherkennung gesprochen. Und einige Missverständnisse, was den Präventionsbegriff angeht. Herr Scherer, wollen Sie es vielleicht noch mal ein bisschen rekapitulieren, ganz knapp?
Scherer: Wir sind da rausgegangen mit der Einschätzung, dass Prävention insbesondere auch als Verhältnisprävention gedacht werden muss, dass die Verhaltensebene das eine ist. Aber dass die Lebenswelten noch mal eine wichtige Komponente sind, die auch oft vergessen werden. Wir sind dann rausgegangen mit dem Gedanken, dass Prävention, die wirklich nur auf das individuelle Verhalten fokussiert, keine Wirksamkeit hat, jedenfalls nicht die, die sich dann auch klinisch relevant niederschlägt. Und dass es für viele Bestrebungen im Rahmen von Früherkennungsmaßnahmen, die oft mit Prävention verwechselt werden, dass es für die eben auch nicht ausreichend Evidenz gibt.
Nößler: Und an der Stelle, wo wir nach Evidenz gesucht haben, da habe ich Sie so ein bisschen gechallenged, wo es überhaupt Evidenz für Prävention gibt. Und da kam dann quasi Ihr Cliffhanger ins Spiel für die heutige Episode. Und Sie haben ein bisschen Literatur mitgebracht heute für das Gespräch. Ich fürchte aber, dass wir an der nicht bleiben können am Ende, sondern dass wir tatsächlich über das Thema Adipositas einfach mal beispielhaft reden müssen. Dafür gibt es die Möglichkeit neuer DMP demnächst. Vielleicht müssen wir auch über Gesundheitskioske reden. Und Herr Scherer, wenn ich es genau sehe, dann auch über das Thema soziale Determinanten für Krankheit und Gesundheit. Und dann drehen wir vielleicht mal das ganz große Rad, nämlich, wie wir eigentlich unser Gesundheits-, Versorgungs- oder Krankheitsgenerierungssystem betrachten sollten. Liege ich damit falsch oder sollten wir in diese Richtung gehen?
Scherer: Ob man das große Rad drehen will oder nicht, Adipositas ist nun mal ein großes Rad. Die gesellschaftliche Aufmerksamkeit ist groß, bei Politik, bei Wissenschaft. Aber die Prävention und die Behandlung von Adipositas, das ist nicht alleine medizinische Aufgabe, es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Und nicht selten eben auch der Ausdruck sozialer Ungleichheit. Und Sie merken, wenn ich noch ein bisschen weiterrede, dann wird das Rad immer größer.
Nößler: Wir fangen einfach mal an zu drehen und dann schauen wir, wie wir das demnächst weiterdrehen. Schaffen wir das in zehn Minuten, Herr Scherer?
Scherer: Klar, Herr Nößler. Zeit ist Geld, besonders in der besinnlichen Vorweihnachtszeit.
Nößler: Okay. Geben wir Gas. Arbeiten wir vielleicht direkt mal die Evidenz durch. Es war ja tatsächlich eine Botschaft in der letzten Episode, dass wir so ein Lack of Evidence haben. Das es war, zumindest gefühlt, dass die Evidenz schwierig ist. Heute wollen wir tatsächlich mal gucken, was gibt es denn in Sachen Verhältnisprävention überhaupt an Evidenz, belastbare, vielleicht auch signifikant positive Aussagen. Anders gefragt: Wie frustrierend war eigentlich Ihre Recherche?
Scherer: Einen langen Atem, den braucht man natürlich, wenn es um Jahre oder Jahrzehnte gehen soll bei Dingen, die irgendwann mal einen Effekt haben soll. Also Prävention heißt ja, ich mache heute was, ich mache es jahrelang und irgendwann muss sich ein Effekt einstellen. Und dann sind wir schon beim Endpunktproblem. Es liegt nun mal in der Natur der Sache, dass es zu wesentlichen Fragen der Primär- und Sekundärprävention bisher eigentlich kaum bis keine Mortalitätsdaten gibt. Das ist ja immer der Endpunkt, auf den wir hinauswollen. Aber davon muss man sich nicht frustrieren lassen. Das liegt einfach in der Natur der Sache.
Nößler: Da habe ich direkt mal die methodische Frage, bevor wir uns das angucken, was Sie gefunden haben. Wenn man – jetzt mal mit Sicht des Versorgungsforschers - sich wertvolle Endpunkte betrachten will, bei verhältnispräventiven Ansätzen, wozu würde man denn greifen? Ich vermute, dass eine wirklich kontrollierte Interventionsstudie über zehn, zwanzig Jahre Follow-up eher schwierig ist, wäre dann nicht eher auch so ein vergleichendes Kohorten-Modell das Mittel der Wahl?
Scherer: Beim Kohorten-Modell haben Sie Beobachtungsdesigns. Und bei so ganz langen Studien – wir hatten es das letzte Mal auch schon mal andiskutiert – haben Sie immer das Problem, dass Sie da eine Mischung aus unterschiedlichen zeitgeistlichen therapeutischen Strömungen haben.
Nößler: Also es verändert sich in der Zeit was getan wird.
Scherer: Richtig.
Nößler: Dann drehen wir es mal um. Weg von der Methodik, hin zu dem, was Sie gefunden haben. Was haben Sie denn gefunden?
Scherer: Die Lösungsvorschläge sehen erst mal natürlich einfach aus. Also eine Kombi aus ausgewogener Ernährung und täglicher Bewegung, das war wahrscheinlich gänzlich neu jetzt für Sie.
Nößler: Ich bin überrascht. Das ist fast eine Breaking News.
Scherer: Also das Wissen ist vorhanden. Dennoch existieren bis heute keine einheitlichen Empfehlungen oder Programme. Und es bleibt offen, wie man die Kinder und Jugendlichen dann innerhalb dieses Wissens in die Umsetzung bringt. Die Schule bietet rein theoretisch optimale Voraussetzungen, da sind sie, das ist ein Ort, an dem die Lehrerinnen und Lehrer engen und ständigen Kontakt haben. Die Kinder verbringen da ausreichend viel Zeit. Also der Zugang wäre da. Aber wie macht man es im Alltag und wie bringt man dann das Wissen, was es eigentlich schon gibt, wirklich auch zum Wirken.
Nößler: Klassiker wäre, ich stelle eine Pommesbude vor der Schule auf. Oder vielleicht etwas anderes. Sie haben, Herr Scherer, zwei systematische Reviews mitgebracht und eine in einem deutschen Journal erschienene Übersichtsarbeit. Sie kennen die Frage, die jetzt kommt: Was machen wir damit?
Scherer: Wir stellen es auf die Webseite DEGAM – nein, wir packen in die Shownotes.
Nößler: Wir können sogar beides machen. Und alle drei Arbeiten beschäftigen sich – Sie haben es schon gesagt – mit Interventionen im Schulsetting, Primar- und Sekundarstufe, wenn ich es richtig gesehen habe, verhältnispräventiv. Und da wird nach Obesity, nach Übergewicht geschaut und den Einfluss darauf. Noch mal anders gefragt: War das bei Ihrer Recherche vielleicht auch ein Investigator Bias, dass sie speziell nach solchen Arbeiten in solchen Settings gesucht haben? Oder ist das nun mal das, wofür es eigentlich eine Evidenz gibt?
Scherer: Das Gute an einem Systematic Review ist ja, dass es ist ähnlich ist wie Gold schürfen. Man muss jede Menge Sand sieben, um die paar wenigen wissenschaftlichen Goldklumpen zu finden, die dann auch wirklich brauchbare Schlussfolgerungen zulassen. Und wenn die Methodik stimmt, dann wird der Sand so gesiebt, dass kein Bias entsteht.
Nößler: Sie haben dann eine Arbeit, ich vermute, es ist ein belgisches Autorenteam, aus dem Jahr 2010. Und zwar ist das ein systematisches Review innerhalb des Hope-Projektes. Und wenn ich das richtig sehe, haben die 42 Studien am Ende gefunden in ihrer Recherche, da geht es um die Verbesserung der Ernährung bei Kindern und Jugendlichen und elf Studien, wo es zusätzlich noch die Kombination zur Verbesserung der körperlichen Bewegung gibt. Herr Scherer, was wissen wir seit dieser Arbeit?
Scherer: Dass man auf beiden Seiten eine Energiebilanz ansetzen muss. Herr Nößler, Frage an Sie: Was sind die beiden Seiten der Energiebilanz?
Nößler: Intake und Outtake, also das, was ich aufnehme an Kalorien und das, was ich verbrauche.
Scherer: Und genau da setzt Systematic Review an. Sie haben es eben auch schon angedeutet, Herr Nößler, es kommt darauf an, ob ich eine Pommesbude vor der Schule aufstelle oder was anderes. Im Grunde genommen sind es zwei Dinge, die zwei Seiten der Energiebilanz. Ich muss für körperliche Aktivitäten sorgen, also für die Energieverbrennung sorgen und auf der anderen Seite für die Verfügbarkeit und die Zugänglichkeit von gesunden Nahrungsmitteln.
Nößler: Das Besondere an dieser Arbeit dieses belgischen Teams ist ja, dass sie insbesondere nach Untersuchungen geschaut haben, nach Interventionen innerhalb Europas. Und man muss gar nicht so weit lesen, sondern wirklich der Satz im Abstract ist schon relativ deutlich, wo sie einfach sagen, dass wir mehr hochwertige Studien brauchen in Europa, die sich beschäftigen mit der Frage der Adipositasintervention oder Adipositasprävention. Ist das am Ende für Sie eine Arbeit gewesen, die auch eine Ernüchterung mitbringt?
Scherer: Man hat solche Schlussfolgerungen immer. Aber man muss halt mit der Evidenz arbeiten, die es gibt. Aber wir werden an den anderen Reviews schon noch sehen, es gibt schon ausreichend Primärstudien, die einen jetzt schon ins Handeln bringen könnten. Aber das ist natürlich der Lieblingssatz aller Review-Autoren: High-quality studies are needed. Da finden Sie kaum ein Review ohne diese Schlussformel.
Nößler: Das ist quasi das wissenschaftstheoretische Must-have in einer ordentlichen Publikation.
Scherer: Genau. Das ist wie: Der Ball ist rund und ein Spiel dauert 45 Minuten im Fußball – eine Halbzeit. Das Spiel dauert 90 Minuten.
Nößler: Und Fußball ist, wenn 22 Mann/Frau dem Ball hinterherjagen und am Ende Deutschland gewinnt. Schön wäre es.
Scherer: Genau.
Nößler: Sie haben gesagt: „weitere Arbeiten“. Dann gucken wir uns die anderen doch vielleicht auch noch mal und dann versuchen wir mal so ein Zwischenfazit zu ziehen. Sie haben eine andere Übersichtsarbeit mitgebracht, das ist eine deutschsprachige Übersichtsarbeit, die ist auch aus dem Jahr 2010 von Brand und Kolleginnen und Kollegen. Und die haben sich damals 22 Studien herausgepickt in ihrer systematischen Übersichtsarbeit, in ihrem Review. Und das sind, wenn ich es sehe, international über die Länder auch sehr heterogene Arbeiten mit einer fürchterlich langen Tabelle, wo sie die Ergebnisse dieser Arbeiten so ein bisschen zusammengetragen haben. Herr Scherer, was haben die da untersucht? Was haben die am Ende vielleicht auch ein bisschen als roten Faden finden können?
Scherer: Das ist auch hier wieder die Kombination. Es gab ein paar Studien, die sich auf die Ernährung konzentriert haben und ein paar Studien, die sich auf die Bewegung konzentriert haben. Aber der überwiegende Anteil, also 16 Studien haben beides gemacht, die haben kombinierte Interventionen angeguckt. Und dann war auch noch eine Studie zur Bildschirmzeit dabei. Die Schlussfolgerung ist also so ähnlich wie eben auch, dass eine kombinierte Intervention über Ernährung, Bewegung, Modifikation der Bildschirmzeit effektiv ist. Es sollte mindestens ein Schuljahr lang dauern, das Ganze. Das war so eine Mindestzeit, die sich da herauskristallisiert hat. Und es sollten Wasserspender aufgestellt werden in Schulgebäuden. Es sollte das Thema zuckerhaltige Getränke, Bildschirmzeit – das sind alles Themen, die dann auch in der Schule thematisiert werden sollen. Also schon eine Schlussfolgerung, mit der man etwas anfangen kann, finde ich. Denken Sie an den letzten DEGAM-Kongress zurück, da hatten wir auch überall Wasserspender stehen. Also allein schon mal diesen unnötigen Zucker-Intake, diese unnötige Zuckerzufuhr zu vermeiden, das ist schon mal ein erster Schritt.
Nößler: Wir sollten vielleicht mal jemanden von Coca-Cola oder anderen zum Streitgespräch einladen, die sehen das vielleicht anders.
Scherer: Dann kommen die mit Cola Zero oder so.
Nößler: Was jetzt auch nicht zweifelhaft das Beste sein muss. Bevor wir ein bisschen zusammenfassen, gucken wir uns gleich noch mal die dritte Arbeit an. Aber vielleicht Zwischenfrage zu dieser Übersichtsarbeit von Brand et al. Die sind in ihrer Einschätzung dazu gelangt, dass sie gesagt haben, man kann schon sehen, dass es ein Benefit hat.
Scherer: Kann man. Aber das ist kein dünnes Brett, was zu bohren ist, weil das natürlich in der Lebenswelt und im Alltag ansetzt. Das heißt, wenn ich jetzt jemanden vom Bildschirm wegkriegen will, dann muss sich die körperliche Aktivität entsprechend incentivieren. Und versuchen Sie mal einem Kind oder einem Jugendlichen das Handy oder das Tablet zu entreißen. Das heißt, da kommen dann soziale Faktoren mit dazu. Das Sporterleben, die körperliche Aktivität, das muss ein Erlebnis sein, das auch eine gewisse Attraktivität ausübt auf die jungen Leute und dann letztlich auch mit der Mattscheibe mithalten kann.
Nößler: Das stelle ich mir vor, wie so ein Wasserglas mit der Mattscheibe irgendwie Schritt hält. Das wäre mal eine Innovation, so ein Wasserspender von Apple oder so. Gucken wir uns noch die dritte Arbeit an. Das ist auch ein Systematic Review von 2020. Ist eine Autorengruppe, eine türkisch-serbisch-italienische Autorengruppe, beschäftigen sich auch mit schulbasierten Interventionsprogrammen zur Prävention von Obesity und Verbesserung des Bewegungsverhaltens. Und die haben am Ende 19 Arbeiten betrachtet. Da interessiert mich, was die sich angeschaut haben, Herr Scherer.
Scherer: Das waren auch ähnliche Interventionsstudien, die sie sich da angeschaut haben. Und auch hier wieder: Es kommt sehr auf die Qualität der körperlichen Aktivität an. Es kommt auf die Dauer an. Und dass es natürlich auch im Alltag entsprechend priorisiert wird. Und sie haben sich natürlich dann auch sehr befasst mit diesen unterschiedlichen Endpunktparametern, die es da gibt, die – darauf werden Sie wahrscheinlich gleich Ihren Finger legen – in erster Linie natürlich Surrogat-Parameter sind.
Nößler: Oh, gutes Stichwort. Was waren denn die Ergebnisse oder diese Surrogat-Ergebnisse?
Scherer: All diese Bewegungsprogramme. Und diese Interventionen sich positiv auf die unterschiedlichen Outcomes ausgewirkt haben. Und das ist natürlich dann eine breite Palette. Das sind die Waist-Hip-Difference dabei, ich glaube Taillenumfang sagt man dazu. Der Körperfettanteil spielt eine Rolle, die Hautfaltendicke. Haben Sie mal die Hautfaltendicke gemessen?
Nößler: Ich mache das jeden Morgen.
Scherer: Können Sie es mit einer Hand greifen? Also im besten Fall kann man es mit einer Hand greifen. Man stellt sich hin, spannt den Bauch an, das Onepack beziehungsweise die Sixpacks, die verborgenen Sixpacks, man spannt es an und dann schaut man, was man dann in der Seite greifen kann und da kann man die Hautfaltendicke messen. Also, Spaß beiseite. Es sind unterschiedliche Surrogat-Parameter. Natürlich schaut man sich erst mal an, ob so eine Intervention auf Verhaltensebene funktioniert. Ist ja eigentlich dazu geeignet, das Bewegungs- und Ernährungsverhalten positiv zu verändern. Das ist schon mal das eine. Das andere sind dann eben diese Dinge wie Körperfettanteil, Bodymaßindex, Hautfaltendicke und so weiter. Aber natürlich sind das Surrogat-Parameter. Und dann sind wir wieder beim Anfang. Sie werden bei solchen Präventionsstudien schlecht härtere Endpunkte produzieren können.
Nößler: Versuchen wir es doch mal, auf einer systemischen Ebene zu betrachten. Versuchen Sie mal, Herr Scherer, die Brille der Health-Technology-Assessment-Methodologie aufzuziehen, wo am Anfang auch immer die Frage gestellt wird: Welche Endpunkte sind denn überhaupt notwendig für mich, um den Effekt einer Intervention abschätzen zu können. Jetzt haben Sie schon diverse Surrogat-Parameter genannt. Bei Bewegung wurde dann, glaube ich, auch mal geguckt, gab es dann irgendwie mehr Bewegung in den Pausen, im Zweifel ist es ja self recorded, also auch mit dem Erfassungs-Bias. Was wären denn aus einer Health-Technology-Assessment-Sichtweise wirklich Endpunkte, wo man sagt: Damit können wir auch über ein Surrogat einen vermutlich positiven Benefit oder ein Risiko ermitteln. Reicht die BMI-Abnahme dafür beispielsweise schon? Wäre Ihnen das stark genug?
Scherer: Man würde wahrscheinlich aus Composite Endpoints zielen müssen, die mehrere Surrogate in den Blick nehmen. Und natürlich auch erst mal auf Verhaltensebene die Effekte beleuchten. Also das muss man immer mitbetrachten, um natürlich die unterschiedlichen Interventionseffekte auch abschätzen zu können. Stellen Sie sich vor, wir finden, dass die Intervention die Menschen schlanker macht, aber auf der Verhaltensebene hat sich nichts getan. Dann wirft das Fragen auf. Dann ist es ein scientifically unsound. Deshalb muss man immer schauen, ob die unmittelbare Wirkung der Intervention und dann der nachgelagerte Effekt im Einklang stehen.
Nößler: Also es muss eine Intuition da sein, dass das auch zusammenpasst.
Scherer: Genau.
Nößler: Methodisch nachgefragt mit Blick auf Endpunkte. Die EBM-Welt wird aus guten Gründen immer propagieren, insbesondere bei der medizinischen Maßnahme will ich ganz harte Endpunkte, und da ist der härteste Endpunkt frühzeitiger Tod oder Hospitalisierung et cetera. Nach solchen Endpunkten würde man ja hier gar nicht suchen. Das macht ja gar keinen Sinn. Weil dann müsste ich ja, wenn ich jetzt bei Adoleszenten oder bei Kindern anfange, dann müsste ich ja ein 80-jähriges Follow-up anlegen.
Scherer: Und den Podcast zu diesem Thema müsste man aus dem Off machen so wie Patrick Swayze, Stimme aus dem Off, der dann noch mal als Geist erscheint. Also diejenigen, auf die heute die Intervention zielen, die werden uns natürlich alle überleben. Das wären Studien, die laufen Jahrzehnte. Und dann haben wir wieder das Thema, dass das natürlich mehr über unterschiedliche Epochen oder längsschnittlich über unterschiedliche Epochen des medizinischen Handelns geht. Und möglicherweise sind es tatsächlich Kohorten-Designs, dass man dann noch mal auch auf die nationalen Kohorten guckt, die es ja gibt. Es gibt ja mehrere Bestrebungen im Rahmen der Helmholtz-Gemeinschaft und anderen, die nationale Kohorte, das sind ja alles richtige Ansätze, um Langzeitdaten zu generieren. Aber wenn wir jetzt ins Handeln kommen wollen – und wir müssen jetzt ins Handeln kommen – dann muss uns diese aggregierte Evidenz, die wir jetzt haben, genügen. Sie haben mich das letzte Mal gechallenged und mein Votum, auch das Votum der DEGAM, war, nicht das Geld in unnötige Früherkennungsprogramme stecken und somit zu verpulvern, sondern bei der Verhältnisprävention anzusetzen, es lieber in gesundes Schulessen und in Bewegungsprogramme zu stecken. Und das ist etwas, das können wir jetzt schon machen und dafür liegt jetzt auch schon das Wissen vor.
Nößler: Sie haben die nationalen Kohorten angesprochen. Die NAKO in Deutschland ist die entsprechende Kohorte, ich glaube, 200.000 Personen, die da drin sind. Wäre es dann zum Beispiel nicht auch denkbar, dass man nationale Kohorten miteinander vergleicht, wo man vielleicht auch so kulturelle Unterschiede am Ende in eine Effektstärke hineinmessen kann? Ich nehme jetzt mal, die NAKO ist jetzt vielleicht die Bratwurst-Kohorte, mal so als Untertitel, und vielleicht gibt es auch so eine nationale Kohorte in Frankreich, die nenne ich dann jetzt mal die Froschschenkel-Kohorte. Wäre das dann vielleicht in 20 Jahren ein statthafter Vergleich, dass man mal diese beiden Kohorten vergleicht und sagt, vielleicht sieht man da auch Unterschiede bei gewissen Endpunkten, die man vielleicht auch kulturell erklären kann?
Scherer: Ja, das kann man machen. Aber es sind Beobachtungsdaten, die man hier erhebt. Und ob das dann die Entscheidungsgrundlage für politisches Handeln sein kann? Noch mal: Handeln muss man eigentlich jetzt.
Nößler: Dann vielleicht noch mal zu diesen drei Reviews nachgefragt. Was auffällt, auch das wird niemanden verwundern, der hin und wieder mal sich Metaanalysen und Reviews anschaut, dass die Begriffe weak und moderate bei den da jeweils untersuchten Arbeiten doch recht häufig genannt werden, was die Studienqualität angeht. Überrascht Sie das jetzt so überhaupt nicht? Oder anders gefragt: Was sagt uns das über die vorliegenden wissenschaftlichen Arbeiten zu dem Thema Primärprävention von Adipositas?
Scherer: Das sagt uns, dass die Forschung dazu noch lange nicht abgeschlossen ist und dass fast jede Übersichtsarbeit mit dieser Forderung nach weiteren qualitativ hochwertigen Arbeiten endet. Wir hatten das eben schon mal. Das gehört zum guten Ton.
Nößler: Sie haben quasi als Fazit aus Ihrer Analyse aus diesen drei Arbeiten gesagt, im Prinzip bestätigen diese Arbeiten, die ja teilweise auch schon ein paar Jahre zurückliegen – und die Studien da drin noch sehr viel länger teilweise –, dass man eigentlich den Hinweis bekommt, wir müssen längst handeln. Schauen wir mal so ein bisschen in die Dinge, die jetzt gemacht werden. Wir reden heute nicht über Früherkennung. Stichwort Verhältnisprävention, darüber reden wir gerade. Wenn wir uns mal einen Schritt von der Schule wegebewegen und vielleicht mal etwas größer in der Population schauen, lass ich jetzt mal das Stichwort Gesundheitskiosk fallen. Der ist auch politisch, seit die Ampelregierung in Deutschland hier das Sagen hat, ein bisschen en vogue. Die sollen ja tatsächlich – so steht es auch in der initialen Formulierung – nicht ausschließlich medizinisch agieren, sondern sich auch um soziale Bedarfe kümmern. Das wurde jetzt jüngst letzte Woche aus dem BMG bei einer Veranstaltung noch mal verstärkt, dass man auch tatsächlich auf die sozialen Determinanten stärker schauen soll. Dass die Ärzteverbände, Fachgesellschaften das kritisieren, das wissen wir. Ist da nicht tatsächlich auch eine Lektion aus diesen schulbasierten Ansätzen, ist das nicht gerade der Hinweis darauf, dass es mehr solche Orte braucht, auch über Schulen hinaus, eigentlich der Punkt, dass man sagt, Kioske können vielleicht doch ganz vernünftige Einrichtungen sein.
Scherer: Das ist das, was man aus den Schulansätzen lernen kann, dass man in den Lebenswelten ansetzt. Es sind alle Maßnahmen sinnvoll, die auf beiden Seiten der Energiebilanz ansetzen und die eben auch in den Lebenswelten der Zielgruppe repräsentiert sind. Dazu gehört zum einen die Schule. Aber auch die Kioske haben ja diesen Lebensweltansatz, die eben dort die Leute ansprechen, wo die auch alltagsmäßig vorbeikommen, in Einkaufsstraßen, in Kaufhäusern. Das ist sicherlich ein Ansatz, den man weiterverfolgen kann. Aber ich glaube, das sind dann auch nicht nur die Schulen und nicht nur die Kioske. Verhältnisprävention geht dann auch breiter. Das geht dann auch über eine Zuckersteuer, das geht über das Thema soziale Ungleichheit als Trigger für chronische Erkrankungen. Noch mal, Herr Nößler, es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Und das kann nicht einfach nur Thema der Medizin sein. Es ist auch ein Thema der Medizin. Aber es fängt eben auch vor der Praxistür an. Und alles, was vor der Praxistür ist, ist gut: die Schule, der Kiosk. Aber damit eben noch nicht genug. Ich weiß nicht, Herr Nößler, ob das in der Gesellschaft schon so angekommen ist.
Nößler: Das war ja auch einer der vielen roten Fäden im letzten Gespräch, wo dieses Missverständnis sehr stark auch thematisiert wurde, dass Prävention als medizinische Intervention missverstanden wird oder als ausschließlich medizinische individuelle Intervention missverstanden wird und eben auch als Früherkennung. Und das Thema Verhältnisprävention da gar nicht zu Wort kommt. Sie haben jetzt beispielshaft genannt Zuckersteuer. Das ist ja eine Sache, die immer wieder genannt wird, auch so Sachen wie Nutri-Score und solche Geschichten wird ja immer wieder auch gebracht. Vielleicht sogar ein Softdrink-Verkaufsverbot in den Schulen. Es steht nicht im Grundgesetz, dass es möglich sein muss, in jeder Schule Softdrinks zu kaufen. Auf der anderen Seite, in Sachen Energiebilanz Verhältnisprävention wäre doch beispielsweise, Herr Scherer, eine ordentliche Verkehrswegeplanung ein gescheiter Ansatz, der zum Beispiel das Fortbewegungsmittel Fahrrad in Städten bevorzugt.
Scherer: Das ist alles gut, was die Schwelle zur Bewegung senkt. Und wenn das Radfahren in den Großstädten kein Überlebenstraining mehr ist und man da auch nicht mehr – wie soll ich sagen – sich wie im Dschungel fühlt, dann ist das natürlich auch eine Schwelle, die gesenkt ist und die die Leute vielleicht dazu bringt, noch häufiger, das Auto stehenzulassen beziehungsweise die Bewegung in den Alltag zu integrieren. Und andere Länder machen es vor. Schauen Sie in Kopenhagen oder in niederländischen Großstädten. Und viele Großstädte bei uns sind auch auf einem guten Weg. Auch da gibt es natürlich auch Unterschiede.
Nößler: Aber bei Ihren Forderungen schwingt auch so ein bisschen mit, einerseits der holistische Blick, eh klar, aber im nächsten Schritt auch, dass die Politik im größeren Stil diesen holistischen Blick haben müsse. Das ist dann der von der WHO propagierte Health in All Policies Ansatz. Mal ganz ehrlich, Hand aufs Herz, wie weit sind wir da in der Bundespolitik in Deutschland?
Scherer: Ich habe nicht den Eindruck, dass der ganz oben auf der Agenda steht.
Nößler: Sehr moderat ausgedrückt. Wir wollen ja hier halbwegs ernsthaft bleiben, wir wollen ja nicht nur rumalbern, wir wollen ja über ein ernsthaftes Thema reden und eigentlich überlegen, was kann man aus dem, was die Wissenschaft, die sogenannte Wissenschaft an Beweisen und Hinweisen liefert, für Schlussfolgerunen ziehen. Und alle, die uns bis hierhin zugehört haben – und es liegt natürlich auf der Hand –, kriegen natürlich mit, wir reden hier die ganze Zeit über Übergewicht. Jetzt kommt eine Suggestivfrage, Herr Scherer, mindestens eine muss sein. Ist Adipositas für Sie jetzt tatsächlich ein Risikofaktor oder vielleicht auch eine Krankheit?
Scherer: Beides. Weltweit hat das Übergewicht die Unterernährung von der medizinischen Bedeutung her überrundet, das kann man schon so sagen. Adipositas ist multifaktoriell verursacht und ist sicher eine ganz wesentliche Herausforderung der Medizin. Es gibt Folgestörungen der Adipositas, die eindeutig als Krankheiten einzustufen sind. Und die Adipositas selber hat auch neben der Biomedizin natürlich psychologische und sozialethische, juristische, ökonomische Gesichtspunkte. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Aber es gibt natürlich auch adipöse gesunde Menschen, die keine weiteren Erkrankungen aufweisen, für die es ein morphologisches Korrelat gibt. Insofern würde ich sagen: Beides, Risikofaktor und Erkrankung sicherlich.
Nößler: Wir können ja wieder dieses Spiel machen. Ich komme zu Ihnen in die Ambulanz und Sie stellen jetzt fest – was wir nicht hoffen wollen –, der Herr Nößler hat ein BMI von 30, aber sonst keine andere Erkrankung. Da wäre ich in Ihren Augen jetzt noch nicht krank. Da würden Sie höchstens sagen: Pass mal auf, hier ist ein Korrelat an Risikofaktoren, oder?
Scherer: Ganz genau. Und würde natürlich mit Ihnen versuchen, auf einen Weg der individuellen Verhaltensprävention einzuschwenken. Das ist ja das, in der Medizin, da kommen wir nicht umhin. Auch wenn wir immer sagen, die individuelle Verhaltensprävention, da gibt es Wirksamkeitsnachweise, die nicht sonderlich belastbar sind beziehungsweise unzureichende Evidenz. Aber das ist ja im Grunde genommen in der 1:1-Konsultation der Weg, der uns dann bleibt.
Nößler: Und daily doing tatsächlich. Wenn man dann jemanden vor sich sitzen hat mit eben diesen jetzt geschilderten beispielhaften Risikofaktoren, immer dann natürlich auch der Versuch, diese Lebenszielberatung zu machen, das Gespräch zu suchen, uns überlegen, was kann man im Gespräch vielleicht bewirken. Und ich meine, Hand aufs Herz, Herr Scherer, wir wissen alle, wie gut beziehungsweise schlecht das im Einzelfall dann eben auch funktionieren kann. Und dass es eben bei vielen Menschen nicht zwingend zu den doch fruchtbaren Ergebnissen, die man sich wünscht, kommen wird.
Scherer: Und dass es eine sehr lange Aufgabe ist. Da werden Sie mit einem Gespräch nie was ausrichten. Also es wird immer darauf ankommen, dass man die Patientin, den Patienten erst mal bei der Stange hält und überhaupt dazu kriegt, in mehreren Folgekonsultationen das Thema überhaupt erst mal mitzugehen.
Nößler: Und das, was Sie sagen, nämlich Patienten bei der Stange halten, Folgekonsultationen, also wirklich so ein Patientenpfad, und im Zweifel auch nur in einer Praxis so anzulegen, dass da eine Regelmäßigkeit entsteht, das ist eigentlich gerade der Versuch von Disease-Management-Programmen. Oder jedenfalls die gute Idee dahinter. Am 16. November hat der gemeinsame Bundesausschuss die entsprechende Richtline beschlossen. Es braucht jetzt noch ein bisschen, bis sie dann offiziell gilt. Wonach man dann demnächst auch mal DMP Adipositas auflegen kann, für Menschen mit einem BMI zwischen 30 und 35 und wichtig an der Stelle mindestens einer Erkrankung. Und jetzt würde man natürlich intuitiv sagen, dann muss doch so ein DMP eigentlich eine super Sache sein, wenn es mir dabei hilft, die Leute in der Praxis bei der Stange zu halten.
Scherer: Theoretisch irgendwo, bei der Adipositas gibt es unseres Erachtens – wenn ich sage „uns“ meine ich die DEGAM – keine ausreichende Datengrundlage. Die allermeisten Empfehlungen, die einem solchen DMP zugrunde gelegt werden sollen, gelten eigentlich für eine andere Zielgruppe. Das sind entweder Schwangere oder für Patienten, die eigentlich nicht aus der primärärztlichen Diagnostik oder Therapie kommen. Zum Beispiel die, die für eine bariatrische Operation infrage kommen. Also das ist Evidenz, wo wir als DEGAM gesagt haben, die ist jetzt nicht zutreffend für das hausärztliche primärärztliche Setting. Und noch mal: Die Prävention beginnt vor der Praxistür.
Nößler: Also die Position von der DGAM ist: Brauchen wir nicht, DMP Adipositas. Weil es keine Evidenz für so ein übergreifendes DMP gibt.
Scherer: Ich finde die Datengrundlage für nicht ausreichend.
Nößler: Mal eine grundsätzliche Frage: Wir könnten wahrscheinlich zig Folgen allein über das DMP-Thema machen und die Frage, wie DMP in Deutschland benutzt werden. Wem helfen diese Programme denn jetzt eigentlich? Ist das am Ende wirklich nur eine Geldbeschaffungsmaschine für die Krankenkassen durch Kodierung und die klugen Leistungserbringer, die damit so ein bisschen den Fallwert aufbessern?
Scherer: Sie haben doch Ihre Suggestivfrage für diese Episode schon verbraucht. Ich spüre den Hauch einer Suggestionsfrage, was wollen Sie suggerieren?
Nößler: Also erstens, Protokollnotiz für die nächste Episode: Es gibt dann keine Möglichkeit einer Suggestivfrage mehr, weil jetzt zwei gebraucht wurden. Und zweitens, die Aufklärung, was will ich suggerieren, was ist die Hypothese, Herr Scherer, die Kritik gibt es ja im System, die ist ja nicht neu, dass Krankenkassen natürlich ein Interesse haben, dass Menschen, die eine Erkrankung haben, richtig kodiert werden. Wenn das denn entsprechenden Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds zur Folge hat – auf der einen Seite. Auf der anderen Seite wissen wir, Medizin ist eben auch eine Art Betrieb. Und da geht es um Einkünfte, Honorare. Und mit dem DMP, DMP-eingeschriebenen Patienten kann ich natürlich ein zusätzliches Honorar generieren. Das wissen wir auch. Und ist es jetzt, Hand aufs Herz, so, dass diese DMP, egal in welcher Hinsicht, einen nennenswerten Benefit bringen werden, mal auch Adipositas-übergreifend? Oder sind das vielleicht nette Spielereien, die ein bisschen Honorar reinbringen und die vielleicht manchen Patienten helfen?
Scherer: Ich glaube, zur Umsetzung von DMPs könnte man sehr viel sagen. Das ist noch mal eine eigene Ausgabe unseres Evidenz-Updates, Herr Nößler. Aber die Idee des DMPs ist weit mehr als eine Spielerei. Das sind ja Extrakte von evidenzbasierten Empfehlungen. Im Grunde genommen handelt es sich bei den DMPs um eine Implementation von Qualitätsindikatoren. All diese einzelnen Gesichtspunkte, nehmen Sie das DMP Diabetes oder auch KHK, all diese einzelnen Items in DMPs gehen natürlich auf eine solide Evidenzgrundlage zurück. Wie das dann in der Umsetzung funktioniert und wem das dann nützt, im besten Fall natürlich den Patientinnen und Patienten, das steht dann noch mal auf einem anderen Blatt. Aber ich würde die DMPs bei allen Umsetzungsthemen, die man besprechen muss, nicht grundsätzlich schlecht finden.
Nößler: Dann halten wir an der Stelle für das Protokoll fest: Herr Scherer findet DMP nicht grundsätzlich schlecht und die Idee jedenfalls gut. Aber meine Hypothese hat er auch nicht komplett dementiert. Und es gibt hier einen Cliffhanger für irgendwann einmal eine Episode zum Thema Disease Management Programs. Vielleicht machen wir zum Abschluss das Ganze noch mal Stichwort großes Rad. Ein bisschen größer. Also gerade auch, wenn wir über das Thema Adipositas reden, wenn wir über Prävention reden, wenn wir über missverstandene Prävention reden, dann zitiere ich jetzt mal jemanden, der sprach neulich von gesunden Kranken und kranken Gesunden. Und ich finde das, ehrlich gesagt, eine ganz wunderbare Bezeichnung für die Paradoxien, die unser Gesundheitsversorgungssystem so in sich trägt. Wenn man jetzt auf der einen Seite, Herr Scherer, sagt, eine vernünftige, eine gut gemachte, echte Prävention ist ein entscheidender Hebel für eine gesunde Bevölkerung, dann müssten wir uns ja im Ergebnis eigentlich noch mehr um die noch Gesunden kümmern. Weil Prävention setzt ja eigentlich da an, wo ich noch gesund bin oder nicht krank. Und wenn man sich jetzt aber das ärztliche und pflegerische Selbstverständnis anschaut, dann ist das doch immer noch sehr, sehr tief von individueller Kuration geprägt. Und natürlich wird, gerade jetzt auch in so einer Grippewelle, ärztlich absolut jeden Tag geklagt, ich habe keine Zeit in der Praxis, mich um die Kranken zu kümmern. Und von außen betrachtet, entsteht da so ein bisschen so ein Widerspruch. Von wem haben wir denn heute in unserem System zu viel? Haben wir zu viel gesunde Kranke, zu viel kranke Gesunde?
Scherer: Ich würde einfach mal sagen, wir haben zu viel Marktmacht. Also die Freiheit des Marktes führt dazu, dass es eine breite Auswahl von gesundheitsschädlichen Optionen gibt. Wenn die einfach nicht da wären, wären wir schon einen Schritt weiter. Vorsicht, Herr Nößler, bitte schreiben Sie jetzt nicht in der Ärzte Zeitung, Herr Scherer plädiert für ein Verbot von allem, was Spaß macht.
Nößler: Nein, ich wollte schreiben: Scherer plädiert für weniger Markt.
Scherer: Aber das ist es doch. All diese Überlegungen gehen doch von einer hypertrophen Grundidee des omnipotenten Medizinsystems aus. Dabei liegt doch die Lösung im Markt. Also wenn es einem leichter gemacht würde, das Schädliche wegzulassen und das Nützliche zu tun, dann wären wir schon mal einen großen Schritt weiter. Sie haben schon angedeutet, die Barrieren für die Bewegung senken, Bewegungsprogramme attraktiv machen, es so in den Alltag einbauen, dass es auch Spaß macht, gesundes Leben, gesunde Ernährung so in den Alltag integrieren, dass es Spaß macht, dass es nicht als Mangel empfunden wird. Und dass man es vielleicht auch im Geldbeutel irgendwie merkt.
Nößler: Wenn Sie von zu viel Marktmacht sprechen, muss man ehrlicherweise sagen, das betrifft auch die Menschen, die Medizin machen. Wenn man es genau nimmt, die Medikalisierung in der Gesellschaft, über die wir beispielsweise oft auch reden müssen, die wird ehrlicherweise ja vor allem auch ärztlicherseits getrieben. Es ist ja nicht nur so, dass es Big Pharma ganz alleine macht. Da mache ich ja als Verordner am Ende auch mit. Und das beste Beispiel im Moment sind die sogenannten Abnehmspritzen. Das sind für viele Menschen mit Typ-II-Diabetes wahrscheinlich ganz wertvolle Arzneimittel, die jetzt nicht zur Verfügung stehen, weil irgendwelche anderen die auf einem blauen Rezept zum Abnehmen verordnen. Also das steckt ja schon im System drin, diese zu viel Marktmacht.
Scherer: Und es wird dann auch mit der sozialen Ungleichheit nicht besser. Es gibt wirklich ausgedehnte pharmakotherapeutische Optionen bei Adipositas. Aber auch hier ist es ja wieder das Thema, dass sich das nicht alle leisten können.
Nößler: Genau. Wenn ich in der Lage bin, jedes Jahr für 10.000, 20.000 Euro mir auf blauem Rezept irgend so eine Abnehmspritze zu holen – ja, super, dann bin ich rank und schlank und habe super Nebenwirkungen im Zweifel noch.
Scherer: Ich spüre einen Konsens.
Nößler: Super. Dass wir das jemals noch schaffen würden in diesem EvidenzUpdate-Podcast. Vielleicht eine andere Sache, das ist so ein Begriff, ich verstehe ihn bis heute nicht und ich kämpfe mich immer noch durch dieses Buch und es will mir nicht gelingen. Es gibt da „Rethinking Healthcare“, das ist ein Buch, das ist ein Buch, das ist schon etliche Jahre alt, von Michael Porter und Elizabeth Teisberg. Value-based Healthcare haben die diesen Begriff damals getauft. Das ist Ihnen natürlich geläufig, nehme ich an.
Scherer: Das ist mir geläufig und das ist eigentlich die Grundidee von vielem, was wir auch hier in unserem Podcast so bewegen. Im Grunde genommen geht es darum, dass ich jeden Dollar oder jeden Euro, den ich ausgebe, im Lichte des Patientennutzens betrachten muss. Wie viel patientenrelevantes, positives Outcome erziele ich mit jedem ausgegebenen Euro. Das ist die Grundidee.
Nößler: Und genau auf dieser Ebene gedacht, müsste es doch dafürsprechen – jetzt wird es richtig bösartig, jetzt versuche ich Sie mal zu einer interessanten Aussage hinzureißen –, dass, wenn wir heute feststellen, wir hatten das in einer anderen Episode, im Laufe des Jahres war das, glaube ich, dass wir eigentlich wahnsinnig viel Geld ausgeben für Gesundheitsleistungen oder generell für Gesundheitsversorgung und eigentlich miserabel sind bei Outcomes oder bei Etlichen. Und selbst Janosch Dahmen, Grün-Abgeordneter, Intensivmediziner hat gesagt, wir geben unheimlich viel Geld aus und die Qualität in unserer Notfallversorgung ist eine Katastrophe. Nur an einem Beispiel. Dann müsste das, was Sie gerade gesagt haben, ja eigentlich bedeuten: Stopp, dann nehmen wir jetzt von diesen vielen, vielen Milliarden ein paar Milliarden raus, streichen diese medizinischen Leistungen, die völliger Unfug und fragwürdig sind und stecken die in Radwege und in Schulobst.
Scherer: Kein schlechter Ansatz. Es würde ja reichen, schon mal bei den großen Überversorgungssegmenten anzufangen, nämlich der Kardiologie und der Orthopädie, wo extrem viel gemacht wird, wo zu viel gemacht wird. Und es würde helfen, jetzt nicht noch zusätzlich unnötig Geld zu verpulvern in zweifelhaften Früherkennungsprogrammen, sondern dort investieren, wo es das Leben und den Alltag besser macht. Und gerade in den Schulen und im Bildungsbereich, da brauche ich jetzt nicht unbedingt mein Fachgebiet zu weit zu verlassen, das kann, glaube ich, jeder Mann, jede Frau nachvollziehen, dass das Geld da gut investiert wäre.
Nößler: Höre ich da auch ein Plädoyer raus? Sie sind ja bekanntermaßen Verfechter einer Bedarfsplanung für Weiterbildung. Das hat ja auch einen guten Ruf innerhalb der DEGAM. Höre ich da vielleicht auch so eine Idee raus, dass wir vielleicht ein flächendeckendes Umschulungsprogramm auflegen sollten für Kardiologen und Orthopäden und Unfallchirurgen hin zur Sozialmedizin und Sozialpädagogik?
Scherer: Möchten Sie jetzt einen Artikel machen, wo ich eine Umschulung von der Kardiologie in die Sozialpädagogik befürworte? Aber ich höre den Kern Ihrer Frage. Wir hatten mal in einem Hotelzimmer in Essen eine Podcast-Episode, da ging es um die Krankenhausreform, es ging um den Mangel an Ärztinnen und Ärzten und um zu viel falsche Medizin. Und da haben wir uns der Hypothese verstiegen, dass, wenn man weniger falsche Medizin macht, Ressourcen freiwerden könnten für die Bereiche, wo sie dringender gebraucht werden. Und ja, Herrn Nößler, ich würde schon sagen, dass der Arztberuf, der Ärztinnenberuf eine ethische Verpflichtung mit sich bringt, die ärztlichen Personalressourcen dorthin zu aluzieren, wo sie am dringendsten gebraucht werden.
Nößler: Für die Gesellschaft.
Scherer: Genau. Dass man die Ressourcen an Pflegekräften, an MFA, an Ärztinnen und Ärzten an den Bedarf der Gesellschaft ausreichtet. Soweit für heute vielleicht erst mal. Sonst kriege ich zu viel böse Post.
Nößler: Also ich finde natürlich die Idee einer Titelzeile „Scherer fordert Umschulung von Kardiologen in Sozialpädiatrie“ total charmant und aufregend. Aber darum soll es ja an dieser Stelle nicht gehen. Wir wollen ja keine Schlagzeilen produzieren in diesem Podcast, sondern wir wollen Gedanken durchkauen und idealerweise zum Nachdenken anregen. Herr Scherer, wahrscheinlich sind wir für heute tatsächlich, wie Sie sagen, jetzt erst mal an einem Punkt für den Moment. Sie haben schon mal zwei Cliffhanger produziert, also mindestens zwei. Das eine ist: Lass uns mal über DMP reden. Und das Zweite ist: Lass uns mal über: Wie verteilen wir das ärztliche Personal richtig und wo setzen wir es ein und wie müssen wir es qualifizieren. Ich würde sagen, wir heben uns das mal auf. An der Stelle, Herr Scherer, es ist jetzt bald Heilig Abend, Weihnachten und dann geht es auch schon ins neue Jahr. Was sagen wir denn an der Stelle unseren Hörerinnen und Hörern?
Scherer: Freuen Sie sich auf unseren Jahresrückblick.
Nößler: Super. Das war der Cliffhanger. Dann bedanke ich mich bei Ihnen, bei Ihnen allen da draußen. Bleiben Sie fröhlich und bis gleich.
Scherer: Tschüss.
Nößler: Tschüss.