Kolumne „Aufgerollt“ – No. 3
Tagung „Medizin und Gewissen“: Die Lehren von gestern für heute
Dieses Jahr findet wieder die Tagung „Medizin und Gewissen“ statt. Unser Kolumnist schaut auf ihre Anfänge und erinnert an dunkle Zeiten der Ärzteschaft.
Veröffentlicht:Seit 1996 findet alle fünf Jahre und vom 21. bis zum 23. Oktober zum sechsten Mal eine Tagung in Nürnberg unter dem Titel „Medizin und Gewissen“ statt. 1996 jährte sich nämlich zum fünfzigsten Mal der Beginn des Nürnberger Ärzteprozesses am 9. November 1946 gegen 23 Angeklagte, denen schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen wurden.
Deren verbrecherische Menschenversuche in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten waren Unterkühlung und Unterdruck bis zum Tod, Zwangssterilisationen, Infektionen mit Fleckfieber oder Hepatitis, das künstliche Erzeugen von Phlegmonen, die Exposition mit Kampfgasen wie Lost oder Phosgen, die Tötungen für Skelettsammlungen und „Rassenforschungen“, die systematischen Euthanasieprogramme oder die Beteiligung an der „Ausmerzung“ unerwünschter Teile des „Volkskörpers“.
75 Jahre „Nürnberger Kodex“
In der Urteilsverkündung am 20. August 1947 formulierte das Gericht auch den „Nürnberger Kodex“, eine verbindliche und allgemein gültige ethische Richtlinie über Experimente mit und an Menschen.
75 Jahre Nürnberger Kodex
Ärztekammer Berlin warnt vor Missbrauch des ethischen Manifests Nürnberger Kodex
Der fünfzigste Jahrestag der Verkündung dieses Kodex im Jahr 1997 war ein Jahr zuvor für die Nürnberger Regionalgruppe der damals schon weltumspannenden IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War) der Anlass für die erste Tagung „Medizin und Gewissen“. Nicht nur sollte damit an den Prozess und an diesen Kodex erinnert werden, sondern er sollte sich auch auf heutige medizinethische Fragen beziehen.
Der Nürnberger Ärzteprozess ist mit zwei Namen besonders verbunden, die in Vergessenheit zu geraten drohten: Alexander Mitscherlich und Alice Ricciardi-von Platen.
Von den Kollegen angegriffen und diffamiert
Alexander Mitscherlich wurde 1946 von den Ärztekammern der Westzonen (die Bundesärztekammer wurde erst ein Jahr später gegründet) damit beauftragt, den Ärzteprozess in Nürnberg zu beobachten. Dahinter steckte die Absicht, dass er mit seinem Bericht die deutsche Ärzteschaft von Kollektivschuld freisprechen sollte.
Als er in der Broschüre „Das Diktat der Menschenverachtung“ von 1947 aber geradezu vom Gegenteil berichtete und systematische, über die Untaten einzelner Personen weit hinausgehende Verbrechen und das Mitläufertum der deutschen Ärzteschaft protokollierte, verschwanden zunächst fast alle Exemplare der Broschüre auf wundersame Weise.
Mitscherlich wurde von den wiedererstarkten und rehabilitierten Altnazis der deutschen Medizinordinarien aufs Härteste angegriffen und diffamiert, innerhalb der Medizin geächtet bis zu seinem Tod 1982.
Kriminalität des psychiatrischen Systems
Alice Ricciardi-von Platen war Mitglied von Mitscherlichs Beobachterkommission. Sie konzentrierte sich dabei auf die Vernichtungsprogramme von sogenannten „Geisteskranken“ und beobachtete dann auch den Hadamar-Prozess in Frankfurt am Main bis 1947.
Erinnerungsprojekt
Überwacht und bedroht im Nationalsozialismus: Vom Arzt zum Behandler
Sie konstatierte eine Kriminalität des gesamten psychiatrischen Systems, von dem die ganze deutsche Ärzteschaft gewusst hatte. Von den 3000 Exemplaren ihrer Veröffentlichung über „Die Tötung Geisteskranker in Deutschland“ gelangten auch auf wundersame Weise nur einige in Umlauf.
Ethische Herausforderung des Klimawandels
25 Jahre nach der ersten schreiben die Organisatoren der diesjährigen Tagung von der aktuellen Gefährdung der Gesundheit und des Patientenwohls, „wenn ihr Lebenswert an einer möglichen ökonomischen Wertschöpfung gemessen wird“.
Im Vordergrund steht dabei auch der menschenverursachte Klimawandel, „geht er doch einher mit einer globalen Gefährdung einer lebenswerten Umwelt und immensen negativen gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen. Deren ethische und auch medizinethische Herausforderungen werden bislang allerdings kaum öffentlich thematisiert“.
In den Hauptvorträgen geht es daher neben dem Nürnberger Kodex auch um „Klima und Krieg“, „Gesundheit ist ein Menschenrecht“, „Global Health und die Pandemie“, „Hippokrates for Sale“, Evidenz und „Ethik der Pandemie“, dazu Arbeitsgruppen und Parallelveranstaltungen.
Diese Tagung lädt mit interdisziplinärem, interprofessionellem und internationalem Austausch dazu ein, über den ärztlichen und medizinischen Tellerrand hinaus zu blicken, nach den Lehren aus der Vergangenheit zu suchen und nach Perspektiven für eine bessere Zukunft: www.medizinundgewissen.de
Auch aus der Feder von Bernd Hontschik: Aktuell im Handel ist sein Buch „Heile und herrsche! – Eine gesundheitspolitische Tragödie“, Westend Verlag.